Die Furcht vor dem Niedergang, die nostalgische Verklärung der “ruhmreichen” Vergangenheit, die Sehnsucht nach der „Gloire“, sind in der Fünften Republik (die immerhin schon seit 1958 existiert) weit verbreitet. Das alles wird flankiert von einem kulturellen Sendungsbewusstsein, welches sich aus Zeiten der Vergangenheit speist, als die französische Kunst und Kultur eine Strahlkraft entwickelte, die weit über die Staatsgrenzen reichte.

Frankreich steht heute auf tönernen Füßen. Es schwankt soziokulturell zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen Großmachtambitionen und einer Art romantischen Wagenburgmentalität, flankiert von gravierenden sozioökonomischen Problemen. Die Aufgabe von Präsident Macron war es daher, seine Bürger mit der Gegenwart aussöhnen und in die Zukunft führen - nicht nur im Interesse Frankreichs.

Die stärksten Unruhen seit 50 Jahren

Es ist schon ein halbes Jahrhundert her, dass Frankreich revolutionäre Unruhen von der Art erlebte, wie sie sich dieser Tage zwischen Calais und Marseilles entladen. Eine politische und wirtschaftliche Stagnation hatte das Hexagon erfasst, die auch nicht von den wechselnden Machtverhältnissen unterbrochen wurde - so schien es zumindest.

Es mag daher ein Treppenwitz der Geschichte sein, dass genau 50 Jahre nach den Revolten von Paris eine neue revolutionäre Unruhe Frankreich erfasst. In Revolutionen siegen diejenigen, die später gekommen sind. Oft sind das Menschen aus den hinteren Reihen oder solche, die im tiefen Dickicht der Provinz überdauert haben. Die Revolution fraß nämlich alle, die direkt an der Barrikade standen - auf beiden Seiten.

Diese Barrikade trennt und verbindet zugleich. Sie manifestiert das Paradoxe dieser Situation, die -wie ein untergehendes Schiff- alles in die Tiefe reißt.

Cohn-Bendit misst mit zweierlei Maß

Einer der Anführer der 68er Revolte war Daniel Cohn-Bendit, heute ein saturierter „Europa-Aktivist", der in den letzten Jahren und Jahrzehnten wahlweise für die deutschen oder französischen Grünen ins Europa-Parlament einzog, sich damit seine lukrativen Bezüge sicherte und in letzter Zeit als Anhänger von Staatspräsident Macron auffällig wurde.

Cohn-Bendit - dieser ehemals enge Weggefährte von Rudi Dutschke - wurde von der TAZ zu den Gelbwesten befragt. Dieses Interview, welches unter der Überschrift „Ich lasse mich nicht ins Trikot zwingen“ veröffentlicht wurde, ist wirklich lesenswert, denn es offenbart die politische Metamorphose eines Großteils des ehemaligen 68er Milieus (hüben wie drüben).

Daniel Cohn-Bendit, in seiner Jugend auch als „Danny le Rouge“ bekannt -ähnlich wie Bernard-Henri-Lévy, jener Modephilosoph, der in der Bussi-Gesellschaft von Paris auch als BHL bezeichnet wird- war einst eine Ikone der französischen 68er-Bewegung, nahm später die Pseudo-Fortschrittlichkeit der linken Intelligenz ins Visier und verdammte den marxistischen Totalitarismus.

So weit, so gut.

Doch die Menschenrechtsdoktrin dieser Revoluzzer von Gestern erinnert in ihrer Rigorosität und Fortschrittsgläubigkeit an ihre verblassten marxistischen Dogmen früherer Tage, flankiert von einer Hinwendung, oder, besser ausgedrückt, einer Hinnahme des globalen Turbo-Kapitalismus - inklusive Unterstützung von Militär-Interventionen und Regime-Change-Abenteuern bei nichtwestlichen Regimen.

Als vor fünf Jahren auf dem Maidan von Kiew neben vielen anderen Demonstranten zahlreiche rechtsextreme Elemente demonstrierten, schaute man im Westen darüber hinweg. Dabei waren die Fahnen und Abzeichen des „Rechten Sektors“ von Svoboda nicht zu übersehen. Stolz wehten die Fahnen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) im Kiewer Wind - jene UPA, die im Zweiten Weltkrieg zeitweise an der Seite der Deutschen Wehrmacht gekämpft hatte und an Pogromen und Massakern beteiligt war, der Millionen von Juden und Hunderttausende von Polen zum Opfer fielen.

Diese reaktionären Kräfte riefen während der Demonstration gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch, der sicherlich kein besonders empfehlenswerter Politiker war, aber unter dem immerhin die territoriale Integrität der Ukraine gewährleistet wurde, zur Gewalt auf.

Diese Bewegung gegen Janukowitsch wurde von nahezu allen westlichen Regierungen kritiklos unterstützt und nach der Machtübernahme sofort anerkannt. Die EU-Grünen -ansonsten innenpolitisch äußerst sensibel, wenn es um die Belange Rassismus und Antisemitismus geht- waren dabei federführend, der neuen ukrainischen Regierung beim Kampf gegen das ultimative Böse, dem Russland Putins, einen Heilgenschein zu verleihen.

Daniel Cohn-Bendit sagte damals: “Ja, es gibt eine faschistische extreme Rechte in der Ukraine. Aber der Maidan ist nicht die extreme Rechte.“

So weit - so gut, eine differenzierte Einschätzung. Wie aber äußert sich Cohn-Bendit dieser Tage zu den Ereignissen in dem Land, dessen Staatsbürgerschaft er auch besitzt – also zu den Demonstrationen der Gelbwesten?

Während sich die Experten schwertun, diese Bewegung ideologisch einzuordnen - wahrscheinlich deshalb, weil es keinen ideologischen Rahmen gibt - weiß Daniel Cohn-Bendit natürlich wieder einmal genau Bescheid.

DCB: „Einige der Anführer, die jetzt das Wort im Fernsehen führen, haben ihre Websites voller Texte gegen Muslime, gegen Ausländer, gegen alles Fremde.“

Frage: „Vielleicht sind dies nur Einzelne.“

DCB: „Es sind nicht alle, aber sehr viele.“

Soso! In dem zu Beginn erwähnten TAZ-Interview darf Cohn-Bendit erklären, warum die Gelbwesten ein Skandal seien - denn: „Sie wollen den demokratisch gewählten Präsidenten weghaben.“

Ah ja! Und was wollten die Demonstranten in Kiew 2005, was die Demonstranten von 1968 in Paris?

Daran erinnert, antwortet der ehemals „rote Daniel“: „Grotesk! Damals hatten wir es an der Staatsspitze mit einem General zu tun...“

Ja, richtig, Herr Cohn-Bendit, mit General de Gaulle, dem legendären demokratisch gewählten Präsidenten Frankreichs, der sein Land zum Widerstand gegen Nazi-Deutschland führte. Während Macron seinem Ruf als Präsident der Reichen alle Ehre macht und die weltweite Herrschaft der multinationalen Konzerne vertritt.  

Tocqueville zeitgemäßer als Cohn-Bendit

Menschen wie Cohn-Bendit, die Vertreter der 68er Generation, kann man bei der Beurteilung heutiger politischer Prozesse getrost außer Acht lassen. Vielmehr sollte man auf wesentlich ältere Chronisten zurückgreifen, in diesem Fall auf einen Franzosen, auf Alexis de Tocqueville, der vor über 150 Jahren starb, dessen Beobachtungen aber glasklar erscheinen, gerade wenn man sie mit denen von Cohn-Bendit vergleicht.

In seiner bahnbrechenden Studie „Die Demokratie in Amerika“ denkt Tocqueville über die Unterdrückung nach, die der Demokratie zukünftig von sich selbst her droht. Er schreibt:

"die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht. Die Sache ist neu und da ich sie nicht benennen kann, muss ich versuchen, sie zu umschreiben... Ich sehe eine zahllose Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihre Seele ausfüllen. Jeder von ihnen ist auf sich selbst konzentriert und verhält sich dem Schicksal der anderen gegenüber wie ein Fremder…“

Tocqueville sah das verhängnisvolle Primat der Ökonomie über die Politik voraus, als er sich fragte, ob nicht in Zukunft die Industriekapitäne die Aristokratie der Demokratie bilden würden.

Damit ist Tocqueville zweifelsohne zeitgemäßer, als Daniel Cohn-Bendit es jemals war.

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